Claudia Rederer, Psychologin und Psychotherapeutin, war Schweizer Freiwillige in der Fundación Consciente in Gotera/El Salvador (Oktober 2023 bis März 2024) www.consciente.ch sowie www.consciente.ong 

In einem eindrücklichen Erfahrungsbericht erzählt sie, was sie in El Salvador während ihrem Einsatz erlebt hat.

Mein Aufenthalt als Freiwillige in El Salvador basiert unter anderem auch auf meiner  Erfahrung als AFS-Austauschschülerin in den USA, gut 50 Jahre früher. Seither bin ich viel gereist, war mehrmals auch länger “on the road” – aber der Wunsch, nochmals in einer anderen Kultur Alltagsleben zu erfahren und mich darin niederzulassen, der blieb und führte zum Einsatz in El Salvador. In vielem war dieser Aufenthalt natürlich völlig anders: Entwicklungsland, ganz anderes politisches System, Erwachsenenblick und berufliche Tätigkeit – in vielem zu meinem Erstaunen aber auch sehr vertraut: ich wohnte in einer Gastfamilie, alles war zum Staunen neu, ich hatte wiedermal die Rolle der “Anfängerin” inne, lernte viel Neues, auch über mich selbst, erlebte in der Mitte die klassische Krise (the honeymoon was over… )  – und fand das Zurückkommen gar nicht so einfach.

Seit bald einem Jahr bin ich nun zurück von meinem Freiwilligeneinsatz bei der Fundación Consciente im Departement Morazán in El Salvador. Auch im Rückblick kann ich sagen: Es war eine tiefgehende, wunderbare und sehr wichtige Erfahrung für mich und ich bin zutiefst dankbar dafür – auch dies sehr verwandt mit den Gefühlen über mein AFS year abroad!

Ich wollte mir zum 70. Geburtstag einen langjährigen Traum erfüllen, einen Einsatz in einem sinnvollen Projekt machen und nochmals in eine ganz andere Kultur eintauchen. So nach dem Motto «Wenn nicht jetzt, wann dann…?».Mein Wunsch war, nochmals ganz in eine andere Kultur einzutauchen und möglichst viel Alltag zu erleben. Ich wollte erfahren wie es ist, in einer anderen Kultur und Organisation Alltag und Berufsarbeit zu erleben, nochmals Neues lernen, mich herausfordern lassen und auch herausfinden, ob ich mit meiner Art und Erfahrung etwas beitragen konnte. Ich kann’s schon vorwegnehmen: Diese Wünsche haben sich beim Einsatz bei Consciente voll und ganz erfüllt!

Am Anfang meiner Recherchen über Freiwilligenarbeit im Ausland war ich überwältigt von der Menge und sehr unterschiedlichen Qualität der Einsatzmöglichkeiten. und fragte mich, wo ich wohl am besten landen würde. Auch hier war schliesslich AFS wegweisend und verwies mich auf SCI (Service Civil International). Dort sprang der Funke sofort, als mir die Verantwortliche das «Projekt Consciente» ans und ins Herz legte. Das Projekt, seine offensichtliche Qualität und die Website sprachen mich sehr an. Zuerst aber der Schreck: «Aber doch nicht nach El Salvador!…». Hohe Mordraten, Gefahr, Tropenklima, langer Flug, komplizierte Anreise – mehr wusste ich nicht über dieses kleine Land in Zentralamerika.

Gleichzeitig spürte ich, dass mich etwas zu diesem Projekt hinzog und ich beschloss, diese voreiligen Bilder und Annahmen besser abzuklären. Sie lösten sich dann im Laufe meiner Nachforschungen genügend auf, so dass ich den “Gump” wagen wollte. Offen war noch die Frage nach meinen möglichen Einsatzgebieten als Psychologin/Psychotherapeutin. Ich konnte mir nicht recht vorstellen, was ich als Nicht-Lehrerin in diesem Bildungsprogramm beitragen sollte. Ein Telefonat mit Chendo, dem Direktor vor Ort, zeigte mir dann auf, dass er spannende Einsatzmöglichkeiten für mich in allen drei Teilprogrammen von Consciente sah.

So nahm dieses Sabbatical Form an und ich spürte eine tiefe Freude, da ich dran war, diesen Lebenstraum zu verwirklichen. In mir waren nur noch Mut, Vorfreude und Klarheit sowie Respekt vor dem Unbekannten – aber keine Angst.

Gleichzeitig wusste ich aber auch: In meinem Alter und mit nicht ganz stabiler Gesundheit brauchte ich genügend Anpassungs- und Übergangszeit, um diesen grossen Wechsel von Zeitzonen, Klima und Lebensweise zu bewältigen. So war mir klar, dass ich sowohl am Anfang als auch am Ende meines Halbjahres genügend Zeit einplanen wollte, um anzukommen, mich anzugewöhnen – und dann den Übergang am Schluss auch wieder sorgfältig machen zu können. Das ist gelungen: Mit drei Wochen Sprachaufenthalt am Anfang und zum Schluss zwei Wochen des Seins und Reisens.

Ich bereitete die Pause in meiner psychotherapeutischen Praxis vor, machte die notwendigen medizinischen Vorkehrungen und nahm Abschied von meinen Enkelkindern, erwachsenen Kindern, meinem Partner und meinen Freund:innen – die lange innere und äussere Reise konnte beginnen.

Nach drei Wochen an der Küste, wo ich mit einem Sprachlehrer mein Spanisch aufpeppte, begab ich mich dann in eine nochmals völlig andere Welt: in den Oriente, nach Gotera, einer mittelgrossen Stadt in Morazán, dem zweitärmsten Departement im Nordosten des Landes. Als erste internationale Freiwillige wohnte ich privat, bei einer Arbeitskollegin von Consciente und ihrem kleinen Sohn – das war nicht immer einfach aber letztlich ein Gewinn. Mein Wohnort Osicala war ca. eine halbe Busstunde von Gotera entfernt und wurde dank der Herzenswärme so vieler Menschen zu meinem salvadorianischen Zuhause. Als “gringa” war ich in diesem Landesteil sofort erkennbar, als ältere alleinreisende Frau ziemlich “exotisch” – aber die allermeisten Begegnungen waren geprägt von Respekt, wohlwollendem Interesse, angenehmer Zurückhaltung – und dann bald den üblichen herzlichen Umarmungen.

Im Arbeitsteam von Consciente fühlte ich mich von Anfang an willkommen und getragen, trotz des grossen Altersunterschieds. Wir arbeiteten gut zusammen und lachten viel, assen in der grossen Küche Tortillas, Reis und Bohnen und lernten uns mit jedem Tag mehr kennen und schätzen, auch in unseren Unterschiedlichkeiten. Ich war froh über die erste Woche, in der ich auf einige Besuche in Schulen und an Anlässe mitgehen konnte, denn nachher war das Schuljahr zu Ende. Die Offenheit und Herzlichkeit der 25 jungen Mitarbeitenden sowie ihr hochprofessionelles Engagement und ihr Mut in ihrer Arbeit beeindrucken mich weiterhin und  bleiben das Kernstück meiner Erfahrung dort.

Die kaum strukturierte Situation für eine Freiwillige liess viel Handlungsspielraum zu. Dies erforderte viel Selbstständigkeit und eigene Ideen, um die Zeit sinnvoll zu nutzen. Die Initiative und Ideen, wie und wo ich tätig sein wollte und konnte, mussten von mir kommen. Dieses anfängliche «Vakuum» war eine zünftige Herausforderung. Im Austausch mit einigen der Kolleg:innen schälten sich dann Einsatzmöglichkeiten heraus, die ich über die fünf Monate zusammen mit ihnen entwickeln und umsetzen konnte.

Dazu gehörte unter anderem die Teilnahme an den Selektionsgesprächen und diversen Veranstaltungen für das Stipendienprogramm, die Mit-Organisation von zwei Teamtagen mit dem Thema «Salud Mental» (Psychische Gesundheit), die Organisation und Durchführung eines Frauenworkshops zum Thema «Selbstfürsorge» sowie die Leitung eines Ausbildungstags für Junglehrer:innen im Bildungsprogramm zu «Trauma y Lernen”. Ebenso entwickelte ich eine Projektskizze zum Umgang mit Traumata im persönlichen und geschichtlichen Kontext als mögliches neues Angebot von Consciente (PS Dieses Projekt ist seither online zwischen dem lokalen Team und mir weiter ausgearbeitet worden und nun bereit zur Umsetzung, sobald unser Schweizer Fundraising Resultate zeigt).

Es war überraschend und befriedigend festzustellen: Ich konnte so ziemlich alles brauchen, was ich als Psychologin, Traumatherapeutin, ehemalige Projektleiterin und -entwicklerin (bei HEKS) und Frau/Mutter/Grossmutter gelernt habe.

Speziell freute mich zum Abschluss, dass ich mit allen drei Programmen von Consciente (siehe www.consciente.ch)  sowie der Stiftung als Ganzes Aktivitäten entwickeln und durchführen konnte und mit fast allen Teammitgliedern eine Zusammenarbeit erlebt hatte. Dabei haben wir, wie mir scheint, immer 1+1=3 gemacht: Wir haben einander zugehört und nachgefragt. So ergaben ihre Erfahrungen und Kenntnisse zusammen mit meinen etwas Drittes, Neues. Dies entwickelte sich zu gegenseitig bereichernden und anregenden „Produkten“. Auch konnte ich dadurch Einblick in fast den gesamten Tätigkeitsbereich von Consciente gewinnen.

Meine kritische Frage, was einen Freiwilligeneinsatz sinnvoll oder überhaupt legitim macht, begleitete mich vor und während meines Aufenthalts. Dass der Gewinn für mich gross war, spürte ich von Anfang an. Was ich beitragen konnte respektive was der Gewinn für die Organisation Consciente war, beantworteten mir dann meine Kolleg:innen in den Tagen des Abschieds und Auswertens auf sehr wertschätzende und  liebevolle Art. Sie  empfanden meine Erfahrung, meine Aussensicht und meine Art als sehr bereichernd und hilfreich. Das freute mich natürlich sehr und bestärkte mich in meinem guten Gefühl über diesen Einsatz.

Sicher ist, dass ICH sehr viel gelernt habe, auch nochmals über mich selbst, und tatsächlich ganz in diese so andere Welt eintauchen konnte.

Vieles verstand ich nicht oder erst nach einer Weile (auch sprachlich, der Oriente-Akzent und salvadorianische Slang kosteten mich einiges!), täglich tauchten neue Gedanken und Fragen auf – aber zunehmend auch Ahas!

Heimnehmen durfte ich einen ganzen Sack voller Freude und Farbigkeit, Erkenntnisse und neuer Erfahrungen! Was davon bleibend ist, kann ich erst in einigen Wochen und Monaten sagen. Mit meinen Erfahrungen hier werde ich in die Schweiz zurückkehren und einen anderen Blick auf El Salvador vermitteln können.

Am wichtigsten sind die vielen kleinen Begegnungen und Erlebnisse, welche den Alltag ausgemacht hatten, sei es im Team von Consciente, in meiner Wohnsituation oder einfach auf der Strasse, im Bus, beim Tortillas kaufen, beim Früchte entdecken, beim Nasswerden unter den heftigen Regengüssen – und beim Staunen über den Regenbogen der sich dann oft aus dem Nebel schälte. Die haben mein Herz oft tief berührt und mich hier sehr glücklich, erfüllt und gesund sein lassen.

Dafür allen aus tiefem Herzen ganz grossen Dank!

Claudia Rederer, Freiwilligeneinsatz Oktober 2023 bis März 2024

 

AFS Biographie

1970/71                exchange student in Oakmont, PA, Oakmont Highschool

1973-77                staff member AFS Swiss Office in Zurich

Ab 1977                AFS volunteer, u.a. Redaktion AFS Bulletin (früheres ACROSS), Mitarbeit auf lokal und national (counselling, selection interviews, etc) sowie Europ. Ebene (EFIL Youth Forum)

2003/04               host family to Ray from China