Die Tore fallen und werden gefeiert – zusammen mit dem Fussball, der die Welt näher zusammenrücken will. Doch tut er das tatsächlich? Das AFS Büro ist geteilter Meinung, was den verbindenden Charakter dieses Fussball-Grossereignisses angeht.

 

Kontra

Mein Gastsohn ist im lokalen Fussballclub und seine Erlebnisse liessen mich das System „Fussball“ einmal hinterfragen, was Motivation, Ab- und Ausgrenzung angeht:

Verpasst ein Mitspieler einen Pass erntet er in den meisten Fällen missbilligende Blicke und oft noch böse Worte obendrauf.

Das WM-Turnier hat den Anspruch, die Nationen näher zu bringen. Echt? Indem ein „wir gegen die andern“ aufgebaut wird? Indem die Rangliste nur Gewinner und Verlierer kennt? Das geht auch hier eher in Richtung Aus- und Abgrenzung und führt ganz selten zu harmonischen Gefühlen auf beiden Seiten der Mittellinie.

Nun, AFS steht für Perspektivenwechsel, für Empathie, für Einnahme des Standpunktes der andern Seite, für ein völkerverbindendes Verständnis. In diesem Sinne müssten wir uns entschieden gegen solche Wettbewerbe stellen.

Deshalb habe ich meine ganz eigenen WM-Regeln gegen die Ausgrenzung aufgestellt:

  • Ich schaue auch Fussballspiele, aber habe grundsätzlich zumindest virtuell beide Nationalflaggen auf meinem Gesicht aufgemalt.
  • Ich juble bei jedem Tor, das fällt.
  • Ich schimpfe nicht – nicht mit dem Schiedsrichter, nicht mit dem foulenden Torwart (bei Fouls könnte man sich das allerdings noch mal überlegen), nicht über den Trainer, der falsche Wechsel vornimmt. Ich feiere und geniesse die Partie.

Ich führe eine eigene Rangliste. In dieser erhalten beide Mannschaften bei einem 2:2 vier Punkte. Gleichviel, wie wenn die eine Mannschaft 0:4 unterliegt. Schliesslich haben die beiden Mannschaften dafür gesorgt, dass ich vier Torszenen zu sehen bekam.

Damit wird wohl diejenige Mannschaft Sieger werden, die aus dem „möglichst lange im Turnier bleiben“ und dem „möglichst viele Tore ermöglichen“ den besten Mix gefunden hat. Das ist dann die Mannschaft, die dem Publikum die beste Unterhaltung geboten hat, ohne andere auszugrenzen. Oder so.

Ich freue mich auf die nächsten Wochen und feiere mit, wo ich kann!

Herzlich
Luc

Pro

Ich habe selber jahrelang Fussball gespielt und meine Erfahrungen sind durch die Bandbreite fast nur positiv. Denn Fussball, oder jeder Sport(-wettbewerb) motiviert einen doch zu Höchstleistungen und zwingt einen sogar, sich in die Schuhe des Gegners oder der Gegnerin zu versetzen, um so zu gewinnen.

Ein verpasster Pass ist zwar unangenehm, doch mit einem guten Spielzug darauf gibt es Lob und ein freundschaftliches ‚auf-die-Schulter-klopfen‘.

Meiner Meinung nach bringt eine Weltmeisterschaft die Nationen absolut näher. Ganz einfach gesagt: Es reisen Mannschaften aus 15 Nationen in ein Gastgeberland und verbringen dort eine gewisse Zeit, lernen die (Spiel-)Kultur der anderen und spielen Fussball. Einer AFS Erfahrung nicht unähnlich, oder? Natürlich gibt es am Ende viele Verlierer und nur einen Gewinner, aber grundsätzlich haben alle die gleiche Chance auf den Sieg.

Was an sportlichen Wettbewerben auch schön ist, dass Meinungsdifferenzen oder erhitzte Gemüter nicht religiös, kulturell oder sozial motiviert sind, sondern durch einen ‚Fehlentscheid‘ auf dem Platz entstehen. Der wortwörtliche Perspektivenwechsel nach der Halbzeit sorgt dafür, dass nach 45 Minuten eh alles wieder anders aussieht und man sich wieder auf das Wesentliche konzentriert: das Spiel.

Viel interessanter finde ich, ob denn AFS Teilnehmende während der WM nun für ihr eigenes Land (wenn es denn mitspielt) oder für ihr Gastland jubeln? Wie weit geht das ‚Zuhausefühlen‘ während eines interkulturellen Austausches; etwa so weit, dass man abtrünnig wird?

Meine ‚Regeln‘ während der WM sehen wie folgt aus:

  • Ich schaue alle Fussballspiele, die ich kann (ausser ich arbeite oder bin in der Schule).
  • Ich juble bei (fast) jedem Tor, das fällt, nur halt eben bei ‚meiner‘ Mannschaft ein wenig lauter.
  • Wenn jemand gefoult wird, leide ich mit, egal welcher Mannschaft er zugehört. Wenn sich aber jemand fallen lässt oder nicht für einen Verstoss geahndet wird, schimpfe ich, wenigstens innerlich.
  • Ich nutze die Gelegenheit und erfahre mehr über die spielenden Länder, freue mich über Erfolge der Underdogs und lasse mich von der allgemeinen Stimmung anstecken.

Am Ende wird dann diese Mannschaft siegen, die während des Turniers besser gespielt und ein bisschen mehr Glück hatte. Aber die Unterhaltung wird so oder so nicht zu kurz kommen. Auf die nächsten Wochen!

Ole, ole!
Tiziana

PS: Fast alle an der Fussball-WM teilnehmenden Nationen sind AFS Länder. Da wir im Vergleich zu anderen Organisationen mit Abstand am meisten Länder in unseren Programmen haben und den interkulturellen Lernprozess, von lokalen Göttis bis zu überregionalen Trainern und globalen Weltverbesserern mit Freiwilligen abdecken, sind wir prädestiniert, an solchen Anlässen ganz vorne mitzumischen. So, wie der erste WM-Torschütze von Island ein AFSer ist.

PPS: Und ja, wir betonen noch einmal: Austauschprogramme vermitteln zwar auch Sprachkompetenzen, sind aber etwas komplett anderes als Sprachschulprogramme. Wir bieten die Plattform, Weltbürger zu werden, die sich eben gerade gegen die Ab- und Ausgrenzung zur Wehr setzen.